Nordeuropa als wahre jungsteinzeitliche Heimat der Indogermanischen Sprache
Die Hufe der Pferde lassen den Boden erzittern. Mit ihren Streitwagen schlagen die Angreifer eine blutige Schneise durch das Dorf und die fliehenden Männer, Frauen und Kinder. Doch die Flucht ist zwecklos: Gegen die kriegerischen Streitaxtleute haben die friedliebenden Bauern und ihre Familien keine Chance. Viele werden erschlagen, die Überlebenden fügen sich in ihr Schicksal und übernehmen Sitten und Sprache der Invasoren: Die Geburtsstunde der ersten Herrenschicht im Gebiet des heutigen Norddeutschlands an der Wende zwischen Jungstein- und Bronzezeit…
So lautet in wenigen Sätzen zusammengefaßt die dramatisierte Variante des Einbruchs der indoeuropäischen Schnurkeramiker nach Europa zwischen 2800 und 2500 v. Chr., wie sie derzeit von Historikern vertreten wird. Das Problem daran: Diese Geschichte ist falsch. Denn die vor allem von der litauischen Archäologin Marija Gimbutas einst propagierte „Invasion der Steppenreiter aus dem Osten“, die wichtige Kulturimpulse, darunter die indogermanische Sprache, nach Europa getragen hätten, ist ein Mythos, der archäologisch längst als widerlegt galt. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam, verbunden mit den Namen Vere Gordon Childe (1926), Hermann Güntert (1930/1934) und Ernst Wahle (1941/1954), die These auf, daß sich die Schnurkeramik — das wichtigste Leitmotiv der im nördlichen Europa zwischen 2800 und 2300 v. Chr. lebenden Volksstämme — aus einer Kurgangrabkultur entwickelt habe, die sich an der Wende vom 4. zum 3. vorchristlichen Jahrtausend im südrussischen bzw. nordpontischen Raum herausgebildet hatte.
Die daraus hervorgehende „kriegerische Hirtenkultur der Schnurkeramiker“ soll dann Mitte des 3. Jahrtausends in das von Megalithbauten errichtenden Bauern bewohnte „alte Europa“ eingebrochen sein und Patriarchat, Streitaxt, Pferd und Kupferwaffen importiert haben. Innerhalb der nächsten Jahrhunderte hätten sich Megalithiker und Schnurkeramiker dann vermischt und zu (Früh-)Germanen und den Nachbarvölkern entwickelt. Ironischerweise nannten Gimbutas und ihre Unterstützer dabei ausgerechnet jene Elemente als Importe der Kurganleute, die geradezu klassisch jener hier ansässigen Megalithkultur, den Menschen der Trichterbecherkultur, eigen waren: Vierrädrige Wagens, kleine rechteckige Holzhäuser, Streitäxte, Grabhügel und ein Sonnenkult inklusive Pferdeopfer.
Archäologische Belege
Archäologisch galt die Einwanderungsthese aus dem Osten daher schon bald als widerlegt, auch weil sich die von Schnüren verzierte Keramik ebenso deutlich aus der vorangehenden Trichterbecherkeramik ableiten ließ, wie die hügelbedeckten Steinkammergräber von den gleichsam von Erde überdeckten Megalithgräbern. Bereits Gustaf Kossinna hatte archäologisch die Ausbreitung der Trichterbecherleute aus Nordeuropa nachgewiesen und mit ihnen eine Verbreitung der indogermanischen Sprachen postuliert.
Eine andere Koriphäe ihrer Zeit, Gustav Neckel, wies vor allem auf die lange nordeuropäische Tradition der Pferdeopfer und die frühe Kenntnis des Wagens, vermutlich auch des Streitwagens hin. Jüngste Forschungen bestätigen nunmehr: Nordeuropa war höchstwahrscheinlich tatsächlich Heimat des vierrädrigen Wagens und könnte auch ein frühes Domestikationszentrum des Pferdes gewesen sein. In der russischen Steppe steht demgegenüber noch nicht einmal eine greifbare Kultur als urindoeuropäischer Kandidat zur Verfügung. Eine Kurgan-Kultur wie von Gimbutas postuliert, hat es jedenfalls laut Alexander Häusler in dem betreffenden Gebiet so nicht gegeben – und den fehlenden archäologischen Spuren zufolge auch keine Form des Reiternomadentums oder der Wagentechnik. Das Gebiet der vermeintlichen Kurgan-Kultur, meint auch Carl-Heinz Boettcher, war damals „gesellschaftlich und wirtschaftlich in keiner Weise weiter fortschrittlich, als andere in der Nachbarschaft – im Gegenteil… Die hier faßbare Ockergrabkultur läuft zeitlich weitgehend mit der Schnurkeramik parallel, ist also gut 1000 Jahre jünger als die Trichterbecherkultur und kann allein deshalb nicht Herd des Indogermanentums gewesen sein. In umgekehrter Weise”, so das Fazit Boettchers, „war sie allem Anschein nach selbst schon ein Produkt des lange zuvor begonnenen Indogermanisierungsprozesses.”
Zuletzt bezeichnete Alexander Häusler die Steppenthese als „alten Mythos“ und bestätigte damit das von Ernst Probst gezogene Fazit: „Früher hielt man sie [die Schnurkeramiker] für eingewanderte Steppennomaden… Nach dem neuesten Forschungsstand geht man jedoch davon aus, daß sich die Schnurkeramischen Kulturen unter Aufnahme neuer kultureller Strömungen aus der Trichterbecherkultur entwickelten.“
Auch die neuere Forschung hat festgestellt, daß die früheste Schnurkeramik aus dem Baltikum stammt und sich seit 2900 v. Chr. südwärts verbreitete.
Linguistische Hinweise
Unterstützung fand die archäologische Widerlegung der Steppen-These ebenfalls schon früh bei der Linguistik: Sprachforscher wie Herman Hirt, Julius Pokorny oder in jüngerer Zeit Ernst Lewy und Jürgen Untermann erläuterten, warum die Steppe als indogermanische Urheimat unrealistisch schien. Auch wenn bei vielen Wörtern eine Bedeutungsänderung möglich ist, also die Bezeichnung eines Baumes ursprünglich einen anderen Baum gemeint haben könnte, deuten die erschlossenen indogermanischen Urwörter für Baum- und Tierarten (Birke, Lachs, Biene, Bär, Bieber) auf eine ursprüngliche Heimat der ersten Indogermanen in einem klimatisch gemäßigten waldreichen Gebiet unweit eines Meeres oder größeren Gewässers. Das Wort, das für „Meer“ in Betracht kommt lautet mori/mari, wird heute allerdings überwiegend als „stehendes Gewässer“ oder „Sumpf“ übersetzt. Die Kenntnis eines Meeres wäre wohl das Aus für die Steppenreiter. Doch auch mit den unbestritten vorhandenen indogermanischen Urwörtern für Elemente der Schiffahrt (Deck, Schiff, Ruder) wurde der Boden, auf dem sich Vertreter der Steppen-Urheimat bewegten, zunehmend dünner. Selbst Marija Gimbutas hat später eingeräumt, daß die frühen Indogermanen mit ihrem mari wohl die Ostsee bezeichneten — allerdings, so die litauische Forscherin im verzweifelten Bemühen der Aufrechterhaltung ihrer Thesen — erst nachdem ihre Vorfahren das Urindogermanische aus der Steppe nach Europa gebracht hatten.
Die Hinweise der Sprachforscher auf eine wahrscheinliche Urheimat des Indogermanischen in Europa korreliert mit der Erkenntnis, daß im Gebiet zwischen den deutschen Mittelgebirgen und Südskandinavien keine nichtindogermanischen Substrate wie Orts- oder Flußbezeichnungen existieren — das heißt, indogermanische Namen erscheinen hier als älteste Sprachschicht. Dies wiederum legt nahe, daß die Trichterbecher-Menschen bereits indogermanisch sprachen.
Das genaue Gegenteil findet sich im Südosten Europas und vor allem im Gebiet des späteren Iran, das einige iranische Forscher als indogermanische Urheimat ins Spiel gebracht hatten. Hier reichen die ältesten indogermanischen Wörter lediglich bis zum Beginn des 3. Jahrtausends zurück und es existiert ein umfangreiches nichtindogermanisches Substrat, wie etwa Derakshani mit seinem untauglichen Versuch der Konstruktion einer indogermanischen Urheimat im Iran einräumen muß.
Hinzu kommt der von Sprachwissenschaftlern erschlossene Zeitraum der Entstehung und spätesten Auffächerung in indogermanische Einzelsprachen, der zwischen 4500 und 3500 v. Chr. angesetzt wird. Die Kurgan-Kultur aber beginnt erst Ende des 4. Jahrtausends archäologisch greifbar zu werden – viel zu spät für ein mögliches indogermanisches Urzentrum. Linguistisch lautet daher bis heute das Fazit: Die indogermanische Ursprache muß in einem Gebiet zwischen Rhein und Wolga entstanden sein, das sowohl den Wald als auch die See kannte und ein gemäßigtes Klima aufwies.
Anthropologische Erkenntnisse
Doch nicht nur sprachwissenschaftliche und archäologische, sondern auch anthropologische Erkenntnisse sprechen für den Nordraum als Ausgangspunkt größerer Wanderungsbewegungen. Hier, so die damaligen Anthropologen, hatten sich Menschen mit heller Komplexion — heller Haut und blonden Haaren — entwickelt: die sogenannten „Nordischen Menschen“.
In der Steppe mangelt es an der zur Ausbildung eines rassischen Menschentyps notwendigen Isolationsmöglichkeit sowie an klimatischen Faktoren für bestimmte anthropologische Ausprägungen: Sonnenarmut und ein nicht zu kaltes Klima. Die Herausbildung der „nordischen Rasse“, deren Verbindung mit der Schnurkeramik dank der jüngsten anthropologischen Erkenntnisse hervortritt, muß wesentlich früher erfolgt sein. Anthropologisch zeigt sich zwischen den Skeletten der Schnurkeramiker und denen der nordischen Megalithkultur kein wesentlicher Unterschied mehr.
Obgleich aus der Steppenregion neben typisch rundköpfigen Skeletten aus Vassilevka auch einige frühe ausgesprochen nordische Individuen vorliegen, kann die Entstehung des nordischen Menschen nur im Norden erfolgt sein: Hier finden sich neben dem Cro-Magnon-Menschen bereits in der Altsteinzeit anthropologische Entwicklungen, die zum nordischen Menschen hinweisen: Um 30.000 v. Chr. erscheint bereits der Schädel aus dem tschechischen Predmost als eine Parallelentwicklung neben dem klassischen Cro-Magnon-Menschen in Europa. Diese mögliche Entwicklungslinie hin zum nordischen Typus kann über den Schädel aus Brünn um 16.000 v. Chr. bis zum Schädel von Combe Capelle (ca. 8000 v. Chr.) gezogen werden.
Eine Entstehung von heller Haut und Blondheit in der Steppe kann trotz aller offenen Fragen heute ausgeschlossen werden. Neuere Daten weisen auf eine wahrscheinliche Depigmentation des europiden Menschen zwischen 18.000 und 10.000 v. Chr. in einem nördlichen Gebiet hin, wobei die frühesten Gene für Blondheit in einem Menschen aus Sibirien für etwa 18.000 v. Chr. nachgewiesen wurden.
Mathematiker schreiben Geschichte
Trotz all dieser einleuchtenden Widerlegung gewann die Kur-gan-These mit der Veröffentlichung einer Reihe genetischer Untersuchungen nicht nur neuen Boden, sondern wurde unter medialem Getöse zur neuen Lehrmeinung erhoben. Einer dieser neuen Studien zufolge lassen sich drei unterschiedliche Populationen in Europa genetisch unterscheiden: Jäger und Sammler Westeuropas (Y-Haplogruppe I); die zweite bilden die frühen Bauern die aus Südeuropa und dem Nahen Osten vor etwa 7.500 Jahren nach Europa einwanderten (Y-Haplogruppe G), und die dritte Gruppe sei „eine Population, die den Norden Eurasiens bevölkerte und die Europäer mit den Ureinwohnern Amerikas genetisch verbinde“: Y-Haplogruppe R. Über Nacht sorgten so Mathematiker dafür, daß die Kur-gan-These nunmehr wissenschaftlich unantastbar schien: „Einer jüngst in der Zeitschrift ‚Nature‘ veröffentlichten Studie zufolge fanden vor ca. 4500 Jahren massive Wanderungsbewegungen aus den eurasischen Steppengebieten nach Europa statt, die einen deutlichen Einfluß auf die Verbreitung einiger indoeuropäischer Sprachgruppen gehabt haben müssen“, heißt es etwa auf dem Netz-Portal Archäologie-Online. In Deutschland, so der Erstautor Wolfgang Haak, „sind es die sogenannten Schnurkeramiker am Übergang zwischen Jungsteinzeit und Bronzezeit, bei welchen erstmals die dritte Komponente auftaucht und deren genetisches Material damit einen zweiten Bevölkerungsumbruch markiert. … Basierend auf einem direkten Vergleich mit Individuen der Yamnaya-Kultur, Viehhirten aus den eurasischen Steppengebieten, konnten wir den genetischen Steppenanteil in den Schnurkeramikern aus Sachsen-Anhalt auf beträchtliche 75 Prozent errechnen.“ „Unsere Ergebnisse“, so Projektleiter David Reich, „stellen die Theorie der Sprachverbreitung im Zusammenhang mit der Einwanderung der ersten Bauern in Frage und belegen mit der spätneolithischen Wanderung aus der Steppe einen Bevölkerungsumschwung beachtlichen Ausmaßes, der eine spätere Verbreitung des Indoeuropäischen plausibel macht.“
Demnach ist in der Mitte des 3. Jahrtausends ein signifikanter Anstieg der Zahl von Angehörigen der ursprünglich aus dem Osten stammenden Y-Haplogruppe R1a in Nord- und Mitteleuropa feststellbar, der dieser Studie zufolge aus dem Jamnaja-Kulturkomplex im Südosten Rußlands stamme. Also doch, raunte das Résumé durch den Blätterwald der bundesdeutschen Medienlandschaft: alle Kultur stamme irgendwie, wenn nicht aus dem Orient selbst, zumindest doch aus dem Osten…
Offene Fragen zur Genetik
Entgegen aller veröffentlichten Berichte ist die genetische Faktenlage jedoch keineswegs so eindeutig, wie oft behauptet. Im Gegensatz zu der vorgeblichen Beantwortung der Frage des Ursprungs von Schnurkeramik und Indogermanischer Sprache werfen die Studien viele neue Fragen auf:
Fast alle der getesteten Personen der als Vorläufer der Schnurkeramik angesehenen Grubengrab-(„Jamnaja”-)Kultur wiesen Y-Haplogruppe R1b auf und nicht R1a. Woher stammt also die hohe Zahl von R1a in Europa, wenn sie innerhalb der Jamnaja-Kultur nicht entsprechend vertreten ist? Wenn die Haplogruppe R1b dem Jamnaja-Komplex entstammt und im 3. Jahrtausend bis nach Iberien und Nordfrankreich gelangte, wo R1b bis heute die vorherrschende Gruppe ist — wieso kam die indogermanische Sprache dann frühestens Ende des 2. Jahrtausends in diese Gebiete? Jüngst wurde nun auch noch festgestellt, daß die in Westeuropa verbreitete Untergruppe der Y-Haplogruppe R1b eine andere ist, als die der vorgeblichen Vorläuferkultur.
Der Versuch, die Widersprüche aufzufangen bestand in der Konstruktion eines „Nord-Jamnaja-Kreises“ mit Y-Haplogruppe R1a, der immer noch 75 % genetische Übereinstimmung mit dem R1b-Jamnaja-Kreis aufweise.
Eine frühere genetische Studie weist demgegenüber auf einen wahrscheinlicheren Ablauf: Laut Wilde et al. hätten sich bei DNA-Analysen an kupfersteinzeitlichen (4500-3000 v. Chr.) Skeletten der Jamnaja-Kultur „deutliche Marker für eine dunklere Pigmentierung von Haut, Haaren und Augen“ ergeben. „Da Umweltbedingungen allein keine ausreichende Erklärung für die Entwicklung hin zu einer helleren Pigmentierung bietet, vermuten die Forscher eine andere Ursache für die festgestellte genetische Selektion: hellhäutigere Menschen waren anscheinend attraktivere Partner.“
Die tatsächliche Verbreitung der Indogermanischen Sprache
Tatsächlich ist eine andere Schlußfolgerung jedoch weitaus plausibler: Es gab Ende des 4. Jahrtausends eine Einwanderung hellhäutiger Menschen aus dem Nordwesten, die dafür sorgte, daß die später im Jamnaja-Komplex lebenden Menschen hellhäutiger wurden. Natürlich waren dann hellhäutigere Menschen die attraktiveren Partner, weil sie eine Art „Oberschicht“ bildeten. Da die Haplogruppe R1a bereits um 6000 v. Chr. auch im nordosteuropäischen Karelien verbreitet war und Funde von R1a innerhalb der Jamnaja-Kultur zahlenmäßig nicht über denen in Nordeuropa liegen, kann eine proportionale Zunahme der R1a-Menschen in Nord- und Mitteleuropa im 3. Jahrtausend eher mit einer Ausbreitung von Nordost nach Südwest, statt mit einer Nordwestausbreitung verbunden sein. Gleichzeitig ist auch eine Ausbreitung der Y-Haplogruppe I2, die in mehreren Genproben aus Schweden um 7-6000 v. Chr. nachgewiesen wurde, nach Südosten festzustellen: Spuren der Wanderungen von Ertebølle-Menschen aus dem Norden.
Genau in diese Richtung zielt auch die jüngste – medial verschwiegene – Kritik des auch an genetischen Studien beteiligten russischen Archäologen Prof. Leo S. Klejn an den Thesen und ihren Auswirkungen auf die Archäologie. Klejn sieht keinen direkten und automatischen Zusammenhang zwischen der Zunahme von R1a in Mitteleuropa und einer Indogermanisierung. An der genetischen Annäherung der bronzezeitlichen europäischen Bevölkerung an die des Jamnaya-Gebietes, die durch eine Ausbreitung der Steppen-Menschen verursacht worden sein soll, stört Klejn vor allem die höhere Dichte von R1a im Norden gegenüber der Südeuropas, z. B. Ungarns. Wenn die Ausbreitung von Südost nach Nordwest erfolgt wäre, so Klejns schlüssige Argumentation, müßte sich dies noch in späteren genetischen Daten widerspiegeln. Da dies nicht der Fall ist, sieht der russische Archäologe statt einer nordwestlichen Ausbreitung der R1a-Y-Haplogruppe eher eine entgegengesetzte.
Vor diesem schwankenden Untergrund der genetischen Eindeutigkeit ist es kaum verwunderlich, daß eine der größten Studien der letzten Zeit, die im Mai 2017 erschienene Untersuchung „The Genomic History of Southeastern Europe“, auf die konkrete Darstellung der Y-Haplogrupen vollständig verzichtet und stattdessen nur von genetischen Zuordnungen zu verschiedenen Gruppen spricht, ohne daß diese Zuordnung für Laien nachvollziehbar wäre.
Trotz aller Gegenstimmen erscheint es plausibel, die erste größere Verbreitung der Indogermanischen Sprache mit der Ausbreitung von nordeuropäischen Trichterbecherstämmen in Verbindung zu bringen, die zwischen 4200 und 3000 v. Chr. in südlicher Richtung einsetzte. Dieser wurde dann seit Beginn des 3. Jahrtausends durch Gruppen von Schnurkeramikern fortgesetzt.
Frühgeschichtliche Prozesse wiederholen sich
Denn schon seit ältesten Zeiten existierte ein kontinuierlicher Wanderungsdrang der Menschen aus dem Norden, der durch Bevölkerungsüberschuß, Klimaeinflüsse und Naturkatastrophen befördert wurde. Der größte Teil ihrer Wanderungen verlief geographisch bedingt südlich entlang der Flußläufe von Rhein, Elbe und Weichsel, obgleich auch schon früh das Meer im Norden befahren wurde.
In der älteren Jungsteinzeit — insbesondere der der Trichterbecherkultur vorausgehenden Ertebølle-Ellerbeck-Periode — erfolgten die Auszüge vor allem in Form kleiner Gruppen junger Männer, die im sogenannten Weihefrühling jedes 5. Jahr in Stärke einer oder mehrerer Bootsbesatzungen zu je sechs bis zehn Mann aufbrachen. Das Aussehen der Menschen aus dem Norden beschreibt
Boettcher unter Berufung auf den Religionswissenschaftler Friedrich Cornelius als „mehrheitlich mit Augen, die blau waren wie der Himmel, Haare blond wie die Sonne und eine Haut so hell wie das Licht.“ Diese körperlichen Eigenschaften sind ein wichtiger Indikator, wann und wo Menschen aus dem Norden eingewandert sind. „Ein langsames Vorrücken einer expansiven Rasse…blonder Indogermanen“, nannte Ernst Krause bereits 1891 die Südwanderung der Nordleute.
Sätze, die Wissenschaftler heute nur intern äußern würden – denn zu groß ist die Angst vor dem Vorwurf, Lehren aus der Zeit des 3. Reiches zu verbreiten. Nicht alle Menschen im Norden, so steht heute fest, waren blond und blauäugig, auch wenn vieles dafür spricht, daß die Kombination aus heller Haut und hellen Haaren im Norden Europas evolutionierte und daher auch häufig anzutreffen war. Aus diesem Entstehungsgebiet des Nordeuropäers, in dem sehr wahrscheinlich auch die indogermanische Sprache entstand, verlief die Route der Auswanderer sowohl entlang der Küsten von Nord- und Ostsee als auch, und das wohl noch häufiger, über die Binnenflüsse in südöstlicher Richtung. Die Ausbreitung führte nach und nach zur Indogermanisierung großer Gebiete in Italien und Griechenland, im Balkanraum, am Ural, nördlich des Kaspischen Meeres und Anatolien. Einher geht diese Indogermanisierung seit dem 3. Jahrtausend mit der Ausbreitung der Schnurkeramischen (auch Streitaxt)-Kultur. „Schnurkeramische Zuströme“ so bereits Hans F. K. Günther, „müssen die Indogermanisierung Mitteleuropas bewirkt haben…. Nordrassische Schnurkeramiker sind jeweils zu Herrenschichten geworden, die die von ihnen besetzten Gebiete indogermanisiert haben.“
Eine Route der Auswanderer verlief aus der Gegend Ostpreußens durch die heutige Ukraine bis zum Kaspischen Meer, wo sich die Arier um 2000 v. Chr. im Gebiet des heutigen Iran und Afghanistan niederließen, das sie Ariana, „Land der Arier“ nannten. Ein Teil breitete sich von hier weiter nach Süden entlang der Levanteküste aus und begründete mehrere indogermanisch beherrschte Fürstentümer (Mitanni, Ugarit, Quatna). Ein anderer Teil stieß um 1600 v. Chr. weiter nach Indien vor. Ein weiterer Weg, den Menschen aus dem Norden zurücklegten, führte von Thüringen über den Balkan bis nach Griechenland und Anatolien. Im Balkanraum, dem alten Thrakien, ließ sich eine große Zahl indogermanischer Siedler nieder, die dem Gebiet den bis in die Antike genutzten Namen Aria gaben, der erst von den Römern durch Thracia abgelöst wurde.
Spuren der Indogermanen aus dem Norden
Archäologische Befunde stützen die Einwanderung der Indogermanen in verschiedene Gebiete in diesem Zeitabschnitt: „In Griechenland scheint in Siedlungen ein einheitlicher Brandhorizont, der auf die Zeit um 2200 v. Chr. datiert wird, auf eine gewaltsame Übernahme von Land und Herrschaft durch die Indoeuropäer hinzudeuten, aus der die frühen Griechen, genannt Achäer, und die mykenische Kultur hervorgingen, die ab 1600 v. Chr. einsetzte“, faßt Reinhard Pohanka die Situation zusammen und fährt fort: „Auch in Troja ist dieser Brandhorizont um 2200 v. Chr. nachweisbar, kurze Zeit später errichteten die Hethiter ihr zentralanatolisches Reich.“
Deutlich wird auch hier wieder die Ausbreitungsrichtung von Nord nach Südosten. Selbst in der russischen Steppe sind in der selben Zeitspanne kriegerische Zusammentreffen nachweisbar. Diese markieren das Aufeinandertreffen der Nordleute mit den Steppennomaden. Der extreme, eher jungpaläolithisch oder mesolithisch anmutende Typus der vorangehenden Dnjepr-Donez-Kultur verschwand gemäß Vonderach „gegen Ende des Neo-
lithikums, ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen. Es scheint ein weitgehender Bevölkerungswechsel stattgefunden zu haben. Die nachfolgenden Kurgan-Gruppen sind cromagnid und robust, mit langem, breitem Schädel (mesokran), mittelbreitem Gesicht, schmalen Nasen und niedrigen Augenhöhlen (ein cromagnides Merkmal).“ Daß die Nordleute sich behaupteten, verdeutlicht auch der anschließende Siedlungsprozeß: Erstmals werden nun in diesem Gebiet, das zuvor lediglich „nomadisierende Wanderbauern“ kannte, größere Siedlungen errichtet. Diese tragen mit ihren hölzernen Befestigungen den Charakter von Wehrsiedlungen, wie sie typischerweise Neuankömmlinge in einem fremden Gebiet errichten.
Genau dieser Prozeß dürfte sich bereits 1000 Jahre zuvor abgespielt haben. Kleine Gruppen von Einwanderern aus dem Nordwesten tragen neue Kulturelemente in die russische Steppe. Hermann Parzinger, Experte für die frühen eurasischen Kulturen, berichtet von kleineren Siedlungen in der Gegend am Ende des 3. Jahrtausends, in denen Schweineknochen vorgefunden wurden. Schweine, so weiß der Biologe, sind für nomadische Völker, die im 4. Jahrtausend hier lebten ungeeignet und müssen wohl mit europäischen Einwanderen hierher gelangt sein. Je mehr Einwanderer kamen, desto größer wurde auch die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Konflikte. Sicher ist, daß sich indogermanische Gruppen hier und auch weiter östlich etablieren konnten.
Von dem neuen Zentrum am Ural, in dem sich später die Androwono-Kultur herausbildet, erfolgten zu Beginn des 2. Jahrtausends weitere Vorstöße Richtung China, wo die Indogermanen als Tocharer erscheinen. Um 1800 v. Chr. wurden europide Siedler dieser Gruppe in der chinesischen Taklamakan-Wüste unter Sand begraben und mumifiziert. Sie bieten einen guten Eindruck, wie die Europäer an der Wende zum 2. Jahrtausend aussahen: Mit Hosen, Jacken und Wollmützen bekleidete, oft sehr groß gewachsene Menschen mit zumeist mittelblondem Haar. Die genetischen Untersuchungen erbrachten bei 92 % der offenkundig europiden Toten die Y-Haplogruppe R1a.
In Persien trugen die Einwanderer neben „Arier“ auch die gleiche Bezeichnung, wie sie die Forschung heute deren europäischen Vorfahren verleiht: „Streitaxtleute“. Ein anderer Stamm, der sich im iranischen Hochland niederließ, nannte sich Germani, wie Herodot berichtet.
Alle wissenschaftlich erfaßbaren Spuren deuten also auf eine Ausbreitungsrichtung der indogermanischen Sprache von Nord nach Südost. Warum aber stieg die Anzahl der Träger der östlichen R1a-Haplogruppe im 3. Jahrtausend in Nordeuropa so stark an?
Jüngste Forschungen weisen auf eine mögliche Pest-Epidemie in Nordeuropa Ende des 4. Jahrtausends hin. Dadurch könnten R1a-Träger aus dem Baltikum oder Nordwestrußland nach Mittel- und Nordeuropa eingewandert sein, um entvölkerte Gebiete zu besiedeln. Eine andere diskutierte Variante ist die These einer zu geringen Geburtenrate aufgrund einer zunehmenden Tendenz zur Inzucht: Darauf weisen Befunde aus Megalithgräbern in Großbritannien, in denen männliche und weibliche Bestattete sehr eng verwandt waren. Der tatsächliche Grund muß bislang aber Spekulation bleiben.
Aus: „Die Entschlüsselung der Indogermanenfrage“