Seit einer Veröffentlichung von Wolfgang Haak im Jahr 2015 gilt die Steppen-Einwanderung als Dogma, obgleich auch aktuelle Studien die Unhaltbarkeit dieser Steppenthese nahelegen, die dennoch weiter als „unbestritten“ in Fachpuplikationen geführt wird.
Unbeachtet blieben entsprechend archäologische Studien, die die Herkunft des schnurkeramischen Stils aus dem Baltikum nahelegen, wo dieser schon Ende des 4. Jahrtausends vorzufinden ist. Gestützt und erweitert wird die These einer Entstehung in diesem Gebiet durch neue Daten aus Finnland, die schnurkeramische Zusammenhänge auf 3100 v. Zw. datieren. Damit wird deutlich, daß sich die Schnukeramik selbst um 3100 v. Zw. an den Küstengebieten zwischen Baltikum und Finnland aus einem Trichterbecherkontext herauslöst und südöstlich sowie südwestlich ausbreitet. Die baltisch-finnische Herkunft wird archäogenetisch durch frühe, mehr als 8500 Jahre zurückreichende R1a-Funde aus dieser Region belegt, die die Gräber der Kultur später dominieren. Im Steppegebiet erscheinen schnurkeramische Kunstelemente dagegen erst seit 2500 v. Zw. innerhalb der Abaschewo-Kultur.
Irrwege der Forschung zur Y-Haplogruppe R
Das Hauptproblem der Steppen-Theorie besteht darin, daß trotz zahlreicher Untersuchungen an Yamnaja-Menschen bis heute weder ein Fund der Y-Haplogruppe R1a noch der Y-Haplo-Untergruppe R1b ausfindig gemacht wurde, der sich in Europa durchsetzte: R1b1a1a2a-L51. Die gefundenen R1b-Typen sind allesamt dem Seitenzweig Z2103 zugehörig, der in einer Sackgasse endete.
Auch jüngere Studien konnten das Bild nicht ändern, sondern erhärteten den Verdacht, daß die Steppenthese falsch ist: Ein 5500 Jahre alter R1b(L388)-Fund aus Dänemark – der älteste des bis heute vorherrschenden europiden Zweiges – enthält kein offizielles Steppenerbgut, zudem wurden im Yamnaja-Grubengrab-Umfeld mehrere I2-Menschen festgestellt, die offenbar aus Skandinavien stammten und nahelegen, daß es vor 3000 v. Zw. eine Einwanderung aus Nordeuropa in die Steppengebiete gegeben haben muß, deren früheste sich wohl gegen 10.000 v. Zw. vollzog.
Dies korrespondiert augenscheinlich mit jüngeren archäologischen Befunden, die eine enge Übereinstimmung zwischen dem Steinkistengrab von Gölitzsch im Saalekreis und einem 2300 km entfernten Steinkistengrab im Kaukasus festgestellt haben. Aufgrund der Funde eines Kupferringes, einer Streitaxt, einer Feuersteinklinge und einer Amphore, die stilistisch der Schnurkeramik zugeschrieben wurden, hatten die Ausgräber für das Göhlitzscher Grab eine Entstehung zu Beginn des 3. Jahrtausends angenommen, bis Analysen der Ziermuster und ähnliche, der Bernburger Kultur zugehörige Gräber, zu einer Neudatierung in das letzte Drittel des 4. Jahrtausends führten. Die Wandsteine des Grabes sind mit roten und schwarzen Motiven verziert, wobei die Darstellung eines Bogens mitsamt Köcher hervorsticht. Gleiches findet sich auch in dem der Maikop-Kultur zugerechneten Steinkistengrab von Klady, so daß die Ausgräber im Kaukasus von einer Beeinflussung aus Mitteleuropa ausgehen.
Der R1-L51-Zweig
Die später in Westeuropa zahlenmäßig überwiegenden R1b-Menschen entstammen dem L51-Zweig (R1b1a1a2a1). Dieser Haplotyp wurde bis vor kurzem mit der Glockenbecher-Kultur assoziiert. Zwei südlich des Bodensees um 2500 v. Zw. bestattete Menschen der Glockenbecher-Kultur galten als früheste Vertreter.
Nun hat eine jüngste Studie in Böhmen erstmals Angehörige des R1b-L51-Zweiges ausfindig gemacht, die der Schnurkeramik-Kultur angehörten. Die sechs Funde wurden auf ein Alter von etwa 4900 Jahren datiert. Diese weisen entgegen der üblicherweise behaupteten „75 % Steppengenetik“ eine autosomale genetische Zusammensetzung auf, die sie als Mischung aus einheimischen, vor allem Frauen, einer östlichen Komponente und einer solchen aus dem Baltikum ausweist.
Zeitgleich wurden auch zwei etwa 5000 Jahre alte R1b-L51-Funde innerhalb der zwischen Altai und Himalaya-Gebirge angesiedelten Afanasievo-Kultur erbracht, die bis zu dem dänischen Fund als älteste Vertreter dieses Zweiges galten und eine Herkunft weit aus dem Osten scheinbar unterstützen. Ebenso wies die autosomale Zusammensetzung der böhmischen Funde auf eine östliche Herkunft. Eine darauf ausgerichtete Hypothese sieht in der Sredni-Stog-Kultur (4500–3500 v. Zw.) einen Ausgangspunkt von R1b-L51, deren Zweige sich von hier nach Afanasievo und Yamnaja ausgebreitet hätten. Dies erschien aber bereits deshalb unglaubwürdig, da in diesem Fall nicht ersichtlich gewesen wäre, warum es innerhalb des mittlerweile sehr umfassend untersuchten Steppe-Erbgutes kein R1b-L51 geben sollte. Eine PCA-Modellierung ergab zudem, daß sich das böhmische autosomale Profil am besten aus drei Komponenten erklären läßt: Einer einheimischen, hauptsächlich weiblichen Komponente, einer östlichen und einer aus dem Baltikum. Sowohl R1b als auch die für Schnurkeramiker typische Haplogruppe R1a finden sich früh im Baltikum, letztere innerhalb von Steppe-Bestattungen dagegen fast überhaupt nicht. Um diese Tatsache zu vernebeln, wird neuerdings von einer Waldsteppe gesprochen, aus der R1a-Menschen nach Europa vorgedrungen seien. Zudem berufen sich Genetiker auf die autosomale Zusammensetzung, die bei Schnurkeramikern durchschnittlich 75 % Steppenanteil aufweisen soll. Tatsächlich handelt es sich dabei um EHG-Anteile, die sich in WHG-, EHG- und SHG-Menschen finden und zu großen Teilen von der Gruppe der Alten Nordeurasier (ANE) abstammen sollen, unzweifelhaft aber mit dem Nordosten Europas verbunden sind.
Auch eine Studie über die Kugelamphoren-Kultur, die der Schnurkeramik unmittelbar vorangeht und sich weit südöstlich ausdehnte, zeigte entgegen aller Erwartungen keinen hohen Anteil sogenannten Steppenerbgutes.
Entstand R1b in Europa?
Und trotz der verbreiteten Auffassung von Wissenschaftlern, die die Haplogruppe R als typisch asiatische Gruppe sehen, könnte R sogar in Europa entstanden sein. Dafür spricht etwa das Fehlen typischer asiatischer Physiognomika. Erstmals in Erscheinung tritt die R-Vorläufergruppe P jedenfalls in der bulgarischen Batscho Kiro-Höhle vor 32.500 Jahren. Der dortige Fund ist älter als der bislang älteste Fund aus dem russischen Jana und trägt bereits drei Mutationen auf dem Weg von P zu R. Die Jana-Leute und der Junge von Mal‘ta wären demnach das Ergebnis einer sehr frühen Ostwanderung.
Die heute zahlenmäßig stärkste Untergruppe von Haplogruppe R, R1b, dürfte mit noch größerer Wahrscheinlichkeit in Europa entstanden sein und läßt sich früh in Europa nachweisen: ab 12.000 v. Zw. in Italien, ab 10.000 in Südfrankreich und ab 9.000 im Balkan und in Lettland – sie scheint aber zunächst noch keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Die ältesten Funde aus Deutschland sind etwa 5.500 Jahre alt, gehören aber, anders als ein zeitgleicher dänischer Fund, zu Zweigen, die sich nicht bis heute fortsetzten.
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