1886 veröffentlichte der als Schlüsselfigur der französischen esoterischen Tradition geltende Marquis Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842-1909) ein Werk, das großen Einfluß auf diverse Okkultisten ausübte: „Mission de l’Inde en Europe; Mission de l’Europe en Asie“ (Indiens Mission in Europa; Europas Mission in Asien – Untertitel: das Problem des Mahatma und seine Lösung).
Hier beschrieb der Autor ein sagen haftes Reich von Agart(t)ha, bei dem es es sich um ein unter der Erdoberfläche verborgenes Land irgendwo im Himalay handele, in dem eine Millionenbevölkerung von einem souveränen Pontifex, dem „Brâhatmah” (der auch den Titel „Rigden-Jyepo“ – König der Welt – trage) und seinen beiden Kollegen, dem „Mahatma” und dem „Mahanga”, regiert wird. Dieses Reich, so erklärt Saint-Yves, wurde zu Beginn des Kali Yuga (des gegenwärtigen dunklen Zeitalters in der hinduistischen Zeitrechnung), das er auf etwa 3200 v. Chr. datiert, in den Untergrund verlegt und vor den Oberflächenbewohnern verborgen. Agartha, so der Autor weiter, genieße seit langem die Vorteile einer Technologie, die weit über die unsere hinausgehe, einschließlich Gasbeleuchtung, Eisenbahnen und Flugreisen. Seine Regierung sei das Ideal der „Synarchie”, das die Oberflächenvölker seit der Spaltung des Universalen Reiches im vierten Jahrtausend v. Chr. verloren haben und das Moses, Jesus und Saint-Yves wiederherzustellen versuchten.
Von Zeit zu Zeit schicke Agartha der Legende zufolge Abgesandte in die obere Welt, welche den hiesigen Menschen Einblicke in neueste Entdeckungen erlauben. Die gesamte Weisheit der Jahrhunderte sei in den Bibliotheken Agarthas aufbewahrt, die in vattanischen Schriftzeichen in Stein gemeißelt seien. Zu ihren Geheimnissen gehören die wahre Beziehung zwischen Körper und Seele und die Mittel, um verstorbene Seelen mit den Lebenden in Verbindung zu halten. Wenn unsere Welt die synarchische Regierungsform annähme, wäre die Zeit reif, daß Agartha sich zu unserem großen spirituellen und praktischen Vorteil offenbare – dies jedenfalls war die Meinung des französischen Esoterikers. Um diesen Prozeß zu beschleunigen, hat Saint-Yves teils in diesem Buch abgedruckte, offene Briefe an Königin Victoria, Kaiser Alexander III. von Russland und Papst Leo III. geschrieben, in denen er sie einlädt, sich dem großen Projekt anzuschließen. Tatsächlich besaß Saint-Yves über seinen Freund, den Earl of Lytton, eine Verbindung zu Königin Victoria und erhielt sogar ihre Erlaubnis, ihr ein späteres Werk zu widmen während er über seine Frau mit der russischen Aristokratie verbunden war.
Vorläufer der Überlieferung
Die Erzählung vom Reich Agharta begegnet dem Leser auch bei Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891), die es als Shambhala zu einem real existierenden geografischen Ort und Sitz des Herrn der Welt in der Wüste Gobi erklärte. Nach dem Untergang von Hyperborea, Atlantis und Lemuria – die allesamt im Norden an den Berg Meru angrenzten – hätten sich Auserwählte der vierten Wurzelrasse dorthin gerettet und dort die Rasse der Arier begründet.
Übernommen hat die Begründerin der Theosopie Shambhala indes aus dem tibetischen Buddhismus, innerhalb dessen eine tradierte Legende eines so benannten mythischen Königreiches existiert, das die Lehren des Buddhismus, insbesondere das Kalachakra, bewahre, während die Welt von Barbaren, welche meist als Muslime identifiziert werden, überrannt wird. Nachdem diese gesiegt und den Dharma ausgelöscht haben, verläßt der 25. König von Shambhala, Raudra Chakrin, sein Reich mit einer buddhistischen Armee und vernichtet die Barbaren. Damit beginnt laut der Legende ein neues Zeitalter des reinen Buddhismus.
Während Shambhala also eine alte tibetische Bezeichnung darstellt, wird die Wortschöpfung A(s)gartha dem Franzosen Louis Jacolliot zugeschrieben, der sie erstmals 1873 in „Les Fils de Dieu“ verwendete. Dieses als „Stadt der Sonne” firmierende Asgartha sei über 3000 Jahre lang Sitz aufeinander folgender „Brahmatras” (geistlicher und weltlicher Herrscher) gewesen, bevor es vor etwa 10.000 Jahren von den Ariern unter Führung eines geistigen Oberhaupt namens Ram(s) erobert wurde.
Die Vorstellung „geheimer Oberer“, die die Welt beeinflussen oder gar lenken sollen, war bis zum „Wilhelmsbader Konvent“ 1782 auch Bestandteil der Freimaurer-Lehre, der zufolge diese geistigen Führer auch die Freimaurerei leiteten.
Gewisse Parallelen zu Agarthi weist auch das unterirdische Vril-Ya-Reich aus dem Roman „The Coming Race“ (deutsch: Das Geschlecht der Zukunft) auf. In dem 1871 von Edward Bulwer-Lytton veröffentlichten Roman geht es um ein Volk, das seit einer Naturkatastrophe abgeschnitten vom Rest der Menschheit in einem unterirdischen Höhlensystem lebe, und sowohl dank geistiger Kräfte wie Telepathie als auch der „Vril-Kraft“ den Menschen weit überlegen sei.
Im deutschsprachigen Raum machte vor allem der aus Polen stammende Schriftsteller, Journalist und Reisende Ferdynand A. Ossendowski Agartha mit seinem – 1924 in Deutschland – erschienenen, Buch „Tiere, Menschen und Götter – Das Rätsel des Königs der Welt“ bekannt. Darin schrieb er über das unterirdische Reich und seine Herrscher unter anderem:
„Das Land unter der Erde ist ein großes Königreich. Zu ihm gehören Millionen von Menschen. Sein Herrscher ist der König der Welt. Dieser kennt alle Kräfte und vermag in die Seelen der Menschheit und in dem großen Buch ihres Geschickes zu lesen. Dieses Königreich ist Agarthi. Alle unterirdischen Völker und unter der Erde befindlichen Räume werden von Herrschern regiert, die dem König der Welt Untertan sind. […]
Die Hauptstadt Agarthi ist von Städten umgeben, die von Hohepriestern und Männern der Wissenschaft umgeben sind. Wenn die wahnsinnige Menschheit einen Krieg gegen das unterirdische Königreich beginnen sollte, so wäre dieses imstande, die ganze Oberfläche in die Luft zu sprengen und sie in eine Einöde zu verwandeln.“
Das Buch endete mit einer dramatischen Prophezeiung eines von Ossendowskis Informanten: Im Jahr 2029 werde das Volk der „Aghardi” aus seinen Höhlen hervortreten und auf der Erde erscheinen.
Der König der Welt
Diese Prophezeiung wurde dem König der Welt zugeschrieben, als er 1890 vor den Lamas erschien. Der König hatte damals vorausgesagt, daß es 50 Jahre des Streits und des Elends, 71 Jahre des Glücks unter drei großen Königreichen und dann einen 18-jährigen Krieg geben würde, bevor die Agarther erscheinen würden.
1927 befaßte sich René Guénon in seinem Werk „Der König der Welt“ mit den Thesen von Saint-Yves.
„Unabhängig von den Beweisen, die Ossendowski vorgelegt hat”, so Guénon, darin, „wissen wir von anderen Quellen, daß Geschichten dieser Art in der Mongolei und in ganz Zentralasien weit verbreitet sind, und wir können hinzufügen, daß es etwas Ähnliches in den Traditionen der meisten Völker gibt.” Und weiter heißt es in Guénons Hauptwerk: „Agarta war, wie man sagt, nicht immer unterirdisch und wird es nicht immer bleiben. Es wird eine Zeit kommen, in welcher nach den von Ossendowski wiedergegebenen Worten „die Völker von Agarti ihre Höhlen verlassen und auf der Oberfläche der Erde erscheinen werden“. Ehe Agarta von der sichtbaren Erde verschwand, hatte dieses Zentrum einen anderen Namen, denn „Agarta“, was „unzugänglich“ bedeutet, wäre nicht passend gewesen. Ossendowski gibt an, daß Agarta vor mehr als sechstausend Jahren unterirdisch geworden ist, und diese Zeitangabe stimmt ziemlich genau mit dem Beginn des Kali-Yuga oder des „Schwarzen Zeitalters“ der alten Völker des Abendlandes überein; ihr Wiedererscheinen muß mit dem Ende derselben Periode zusammenfallen. Saint-Yves hätte zweifellos diese Symbolik erklären können, aber er hat es nicht getan, und hierdurch erhalten gewisse Teile seines Buches den Anschein von Trugbildern. Ossendowski war sicher unfähig, sich vom Buchstaben zu lösen und in dem, was man ihm erzählte, etwas anderes zu sehen als den einfachen Inhalt im unmittelbarsten Sinne.
1930 widmete Nicholas Roerich sein „Heart of Asia – Shambala“ dem unterirdischen Königreich und schuf eine bis heute lebendige Bilderwelt zu dem Thema. In seinem Reisetagebuch notierte der Abenteurer:
„Shambhala selbst ist der heilige Ort, an dem sich die irdische Welt mit den höchsten Bewußtseinszuständen verbindet. Im Osten weiß man, daß es zwei Shambhalas gibt – ein irdisches und ein unsichtbares. Es ist viel über den Ort des irdischen Shambhala spekuliert worden. Gewisse Anzeichen verlegen diesen Ort in den extremen Norden, indem sie erklären, daß die Strahlen der Aurora Borealis die Strahlen des unsichtbaren Shambhala sind. Dies ist so jedoch nicht zutreffend. Das irdische Shambhala liegt nur von Indien aus gesehen nördlich. Daher ist es im Himalaja, im Pamir und Turkestan oder der zentralen Gobi zu suchen.“
Rigden-Jyepo, den Herrscher Shambhalas, betrachtete Nicholas Roerich als Boten einer Neuen Epoche, der zur Zeit eine unbesiegbare Armee für den Kampf gegen die Mächte der Finsternis vorbereitet. Roerich identifizierte diesen Herren der Welt als Maitreya, den Letzten Avatar, welcher das Eiserne Zeitalter – das Kali-Yuga – zu Ende führt und zugleich das neue Krita oder Satya-Yuga, das kommende Goldene Zeitalter eröffnet.
1933 verfaßte der englische Schriftsteller James Hilton mit „Lost Horizon – das vergessene Land Shangri-La im Himalaja“ einen ersten Agartha-Roman.
Bis in die heutige Zeit spielen sowohl das von Saint-Yves portraitierte Agartha als auch sein Synarchismus eine Rolle in esoterischen Darstellungen.
Literatur
De Gourdon, Come Carpentier: A French Prophet of India’s Resurgence
in the Nineteenth century: Saint Yves d’Alveydre and his ‚Mission de l’Inde’. Neu Delhi 2010
Godwin, Joscelyn: Arktos. Der polare Mythos zwischen NS-Okkultismus und moderner Esoterik. Graz 2007
Godwin, Joscelyn: Vorwort zu „The Kingdom of Agartha“ (US-amerikanische Ausgabe von „Mission de´l Inde). Rochester 2008
Heinzerl, Thomas: Weiße Bruderschaft und Delphische Idee: Esoterische Religiosität in Bulgarien und Griechenland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dissertation, Erfurt 2013
Guénon, Réne: Der König der Welt. Bottrop 2023
Krüger, Dennis: Der Aufgang der Schwarzen Sonne. 2. Aufl. Bottrop 2023
Ritter, Thomas: Der Mythos von Agartha. PDF-Manuskript, Possendorf 2001
Ritter, Thomas: Shambhala – die magische Stadt im Himalaja. PDF-Manuskript, Possendorf 2001 (2)
Webb, James: Die Flucht vor der Vernunft. Wiesbaden 2009